"Drowning Doesn't Look Like Drowning" oder "Wenn Ertrinken nicht nach Ertrinken aussieht!"
Kreis Herford/New Orleans. Während der vergangenen Tage hat sich die Zahl der tödlichen Badeunfälle gehäuft. Allein am bisher heißesten Wochenende des Jahres (4./5.07.2015) ertranken bundesweit mindestens zwölf Menschen. Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG), Feuerwehr und Polizei mahnen zur Vorsicht und zu erhöhter Aufmerksamkeit an allen Badegewässern. Kinder im Alter bis 15 Jahren sind nach Angaben der Experten besonders häufig betroffen. Einzig die Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr ist in dieser Gruppe noch höher.
Am Sonntag (5.07.2015) war eine 38-Jährige beim Schwimmen im Franz-Felix-See in Greven (Kreis Steinfurt) ertrunken. Feuerwehr, DLRG und Polizei konnten die Frau trotz aller Bemühungen nur noch leblos bergen. Einen Tag zuvor war ein sechsjähriger Junge beim Spielen am Rheinufer von der Strömung erfasst worden. Die Helfer suchten mit Booten und einem Polizeihubschrauber nach ihm. Mit Hilfe eines Sonargeräts fanden ihn die Beamten schließlich unweit der Stelle, wo er im Beisein seines Vaters zuletzt gespielt hatte. Er konnte ebenfalls nur noch tot aus dem Wasser geborgen werden.
Nach Informationen des Internetportals „Ostsee 24.de“ sterben in Deutschland Jahr für Jahr mehr als 400 Menschen durch Ertrinken. Das Kuriose: In vielen Fällen befanden sich weitere Badegäste in unmittelbarer Nähe. Die blieben allerdings untätig, weil sie die Situation nicht erkannten oder falsch einschätzten. Den Grund dafür sehen Experten in erster Linie in Fernsehfilmen, die den Zuschauern ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit vermitteln. Während die Unfallopfer im Film wild gestikulieren und vor allem laut um Hilfe rufen, sieht die Realität oftmals anders aus. Mario Vittone, Rettungshubschrauberpilot und -schwimmer der U.S. Coast Guard in New Orleans untersuchte das Phänomen. Mit seinem Artikel „Drowning Does’t Look Like Drowning“ („Wenn Ertrinken nicht nach Ertrinken aussieht!“) hat er für viel Aufsehen gesorgt.
Eine aktuelle Studie der Versicherungswirtschaft warnt: 70 Prozent der befragten Eltern
glauben, dass ihre Kinder - sobald sie die Seepferdchen-Prüfung abgelegt haben - gute bis
sehr gute Schwimmer sind. (Foto: obs/Deutsche Vermögensberatung AG - DVAG)
Als der Rettungsschwimmer in voller Montur ins Wasser sprang, waren die anderen Badegäste zunächst irritiert. „Ich glaube, er denkt, du ertrinkst!“, sagte der Mann zu seiner Frau. Sie hatten sich zuvor mit Wasser bespritzt und geschrien. „Uns geht es gut!“, rief der Mann und deutete dem Rettungsschwimmer an, umzukehren. Der ließ sich allerdings nicht beirren und brüllte, während er mit schnellen Kraulschlägen vorbeischwamm, nur kurz: „Weg da!“ Das kleine Mädchen, das keine drei Meter von ihren ahnungslosen Eltern entfernt zu ertrinken drohte, behielt er dabei fest im Blick. Als sich die Neunjährige in den Armen des Rettungsschwimmers befand, brach sie in Tränen aus und rief schluchzend nach ihren Eltern. Wie konnte der Coast-Guard-Retter aus 15 Metern Entfernung erkennen, was der Vater aus drei Metern nicht realisierte? Vittone überrascht die Geschichte aus seinem Einsatzalltag überhaupt nicht. „Der Rettungsschwimmer hatte durch eine fachliche Ausbildung und seine jahrelange Erfahrung gelernt, einen Ertrinkungsunfall zu erkennen!“ Die Eltern hatten hingegen nur vermuten können, wie so etwas aussieht. Und dazu gehöre, wie der Experte meint, eben nicht lautes Schreien und auffälliges Winken, wie es Filmemacher oftmals ihren Zuschauern weiszumachen versuchten. Im Gegenteil: Bis sie nach „Mama und Papa“ schluchzte, hätte das kleine Mädchen keinen Ton von sich gegeben, berichtet Vittone in seinem Artikel weiter. „Ein solcher Vorfall läuft fast immer mit trügerischer Ruhe ab!“ In der Hälfte der Fälle, bei denen Kinder betroffen gewesen seien, hätten sich die Eltern oder andere Angehörige unmittelbar in der Nähe – Vittone spricht von bis zu 20 Metern - aufgehalten. In zehn Prozent dieser Unfälle, so sagt der US-Experte, sei der Nachwuchs sogar vom Ufer aus im Wasser beobachtet worden, ohne dass der Ernst der Lage erkannt worden sei.
Oftmals ist die Wassertemperatur Ursache für Ertrinkungsunfälle. In Großbritannien, wo das Meerwasser oft sehr kalt ist, ertranken 55 Prozent aller Opfer nicht mehr als drei Meter vom Ufer oder einem Boot entfernt, obwohl ein Drittel von ihnen als gute Schwimmer galten. Wissenschaftler haben ermittelt, dass die Körpertemperatur in einem Gewässer unter 28 Grad nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Wärmeenergie wird an das Wasser abgegeben. Die Leistungsfähigkeit der Muskelzellen lässt nach und es wird zunehmend schwieriger Atmung und Schwimmstöße zu synchronisieren. Die instinktive Reaktion auf das Ertrinken (The Instinctive Drowning Response) – so benannt von Dr. Francesco A. Pia – beschreibt das Verhalten von Menschen, denen der unmittelbare Ertrinkungstod droht. Sie sind nur selten in der Lage, um Hilfe zu rufen; denn das Atmungssystem ist in erster Linie auf das Luftholen ausgelegt. Sprechen ist hingegen eine dem Atmen unterlagerte Funktion. Der Mund ertrinkender Menschen sinkt abwechselnd unter die Wasseroberfläche und taucht wieder aus dem Wasser auf. „Er befindet sich nicht lange genug über der Wasseroberfläche, um auszuatmen, einzuatmen und dann auch noch um Hilfe zu rufen“, schreibt Dr. Pia in seinem Beitrag für das Coast Guard’s On Scene Magazine. Ertrinkende Menschen können in aller Regel auch niemanden herbeiwinken. Die Natur zwingt sie vielmehr instinktiv dazu, die Arme seitlich auszustrecken und von oben auf die Wasseroberfläche „zu drücken“. Dieses Verhalten ermögliche es, den Körper nach oben zu bewegen, um den Mund zum Atmen aus dem Wasser zu heben, beschreibt der Experte den Überlebenskampf. „Physiologisch gesehen ist ein Mensch in dieser Phase aber nicht mehr in der Lage, das Ertrinken aufzuhalten und bewusste Bewegungen auszuführen.“ Das Winken nach Hilfe, die Bewegung auf einen Retter zu oder das Greifen nach einem Rettungsring seien dadurch nicht mehr möglich, sagt Dr. Pia. Von Anfang bis zum Ende der instinktiven Reaktion befindet sich der menschliche Körper aufrecht im Wasser. In dieser Phase können sich Ertrinkende nach den Erfahrungen des Experten nur noch 20 bis 60 Sekunden an der Wasseroberfläche halten – nicht viel Zeit für einen Rettungsschwimmer.
Selbstverständlich muss einer Person, die schreiend und winkend um Hilfe ruft, ebenfalls sofort geholfen werden. In diesem Fall sprechen die Fachleute allerdings von einer Wassernotsituation. Anders als beim tatsächlichen Ertrinken können solche Unfallopfer noch an ihrer Rettung mitwirken und beispielsweise nach Rettungsleine oder –ring greifen. Im Zweifel sollte man eine Person einfach ansprechen, meint Mario Vittone: "Geht es dir gut? Brauchst du Hilfe?"
Quelle: Ostsee24.de, Originaltext: "Drowning Doesn't look like drowning", Mario Vittone
-Vo-
Anzeichen für einen Ertrinkungsunfall können nach Ansicht der Experten sein, wenn
- sich der Kopf tief im Wasser mit dem Mund auf Höhe der Wasseroberfläche befindet,
- der Kopf nach hinten geneigt und der Mund geöffnet ist,
- die Augen glasig und leer sind und die Umgebung nicht fokussieren können,
- die Augen geschlossen sind,
- die Beine nicht (vertikal) benutzt werden,
- eine beschleunigte Atmung oder Schnappen nach Luft wahrnehmbar ist,
- versucht wird, in eine bestimmte Richtung zu schwimmen, aber kein Vorankommen
feststellbar ist.
Vorbeugende Maßnahmen und Verhaltensregeln können die Gefahr einschränken. Dazu gehören vor allem:
- Kinder im Wasser niemals unbeaufsichtigt lassen,
- bei Bootsfahrten eine passende Rettungsweste tragen,
- nicht leichtsinnig über zugefrorene Gewässer laufen,
- unbekannte und unbewachte Gewässer meiden,
- Warnungen vor Strömungen ernst nehmen,
- Kopfsprünge in unbekannte oder niedrige Gewässer vermeiden,
- bei hoher Lufttemperatur nicht ohne vorherige Abkühlung ins Wasser springen,
- seine Kräfte nicht überschätzen und in Ufernähe bleiben
-Vo-
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In diesem Sommer sind wieder mehrere Menschen bei Badeunfällen ums Leben gekommen. (Foto: Sylt Marketing, Holger Widera)
Erfahrene Rettungsschwimmer wissen: Ein Ertrinkungsnotfall läuft oftmals lautlos ab. (Foto: obs/DLRG)