Stefan D. starb durch die Verkettung von Fehlern

Atemschutzunfall sollte allen Feuerwehrleuten Mahnung und Warnung sein

Marne AGT Unfall cMarne. Der 6. Dezember 2015 ist als schwarzer Sonntag in die Geschichte der Feuerwehr Marne im Landkreis Dithmarschen (Schleswig Holstein) eingegangen. An diesem Tag kam ihr Kamerad Stefan D. (31) aus einem Brandeinsatz nicht mehr zurück. „Mayday, Mayday, Mayday …!“, dieser verzweifelte Notruf war das letzte Lebenszeichen, das sie von ihm hörten. Der Feuerwehrmann starb einen qualvollen Erstickungstod. Seitdem ist bei der Feuerwehr Marne nichts mehr wie vorher. Die Hanseatische Feuerwehr-Unfallkasse (HFUK) hat den Atemschutzunfall mittlerweile genauer untersucht. Sie kommt zu dem Schluss, dass eine Verkettung von Fehlern das tragische Unglück ausgelöst hat. Ihre Analyse, die im November 2016 im Sicherheitsbrief Nr. 40 veröffentlicht wurde, sollte allen Feuerwehrleuten Mahnung und Warnung sein.

Die Gutachter haben die Abläufe gemeinsam mit den beteiligten Einsatzkräften der Feuerwehr Marne so weit wie möglich rekonstruiert. Das Geschehen beginnt an jenem 2. Advent völlig unspektakulär. Die Feuerwehr des 6.000-Einwohner-Städtchens rückt standardmäßig mit zwei Löschgruppenfahrzeugen aus, weil es in einem Wohn- und Geschäftshaus im Zentrum brennt. Als die ersten Kräfte vor Ort eintreffen, ist nur wenig Rauch zu sehen, der aus dem Dachgeschoss des ehemaligen Eisenwarengeschäftes dringt. „Man musste schon ganz genau hinsehen, um den Brand von der Straße aus zu erkennen“, sagt ein Zeuge später.

Keine ausreichende Lageerkundung

In dem Bericht wird festgestellt, dass zu Beginn des Einsatzes keine ausreichende Erkundung des Brandobjektes stattgefunden hat. Ein Einblick in alle Bereiche des Gebäudes sei allerdings wegen dessen Größe und Unübersichtlichkeit von außen auch nicht möglich gewesen. „Dennoch fehlten dadurch wichtige Erkenntnisse!“ Vom Löschgruppenfahrzeug 16 rücken zwei Trupps unter Atemschutz und „Einschätzung der Lage nach Sicht“ in das Gebäude vor. Sie haben den Auftrag, das erste Obergeschoss und die dortige Wohnung nach Personen abzusuchen sowie eine Brandbekämpfung vorzunehmen. Zwischenzeitlich ist das Löschgruppenfahrzeug 10/6 ebenfalls vor Ort. Zur Besatzung gehört der später tödlich verunglückte Stefan D. Der 31-Jährige gilt als erfahrener Feuerwehrmann, der seit 13 Jahren für die Feuerwehr Marne im Einsatz ist. Sein Gruppenführer schickt ihn gemeinsam mit einem Kameraden ebenfalls zur Menschenrettung und Brandbekämpfung in das Treppenhaus vor. Der Trupp soll sich zuvor bei der Atemschutzüberwachung anmelden und eine eigene Schlauchleitung mitführen. Diese Befehle werden allerdings von den beiden Feuerwehrleuten ignoriert. Ebenso spricht der Gruppenführer vom zweiten Löschfahrzeug sein Handeln auch nicht mit dem Gruppenführer der zuerst eingetroffenen Einheit ab.

Am Feuer vorbeigelaufen, Durchmischung der Trupps und fehlende Kommunikation

Alle drei Trupps bzw. sechs Feuerwehrleute sind mittlerweile im ersten Obergeschoss des ehemaligen Eisenwarengeschäftes angekommen. Dort treffen sie eine folgenschwere Entscheidung. Ihnen ist bekannt, dass die Besitzer ausgezogen sind und sich deshalb wohl niemand in deren ehemaliger Wohnung aufhalten wird. Alle drei Trupps verzichten deshalb darauf, die Wohnung zu öffnen und steigen stattdessen weiter das Treppenhaus in Richtung Dachgeschoss hinauf. Zu ihren Beweggründen sagen die Feuerwehrleute später, sie hätten zunächst eine Rauchabzugsöffnung für einen Lüftereinsatz schaffen und dann die Brandbekämpfung aufnehmen wollen. Was sie allerdings nicht bemerken: In der Wohnung im ersten Obergeschoss, die tatsächlich leer steht, brennt es in einem der hinteren Räume. Von dort, wo später auch die Brandausbruchstelle lokalisiert wird, breitet sich das Feuer rasend schnell in das Dachgeschoss aus. Die Feuerwehrleute sind damit ungewollt am Brandherd vorbeigelaufen. Ein solch schwerwiegender Fehler hat bereits in der Vergangenheit Feuerwehrkameraden das Leben gekostet. Zuletzt starben im Dezember 2005 zwei Einsatzkräfte in Tübingen, weil ihnen das Feuer den Rückzugsweg abschnitt.
Weder die Einsatzleitung noch die Atemschutzüberwachung bekommen von dem eigenmächtigen Vorgehen der Einsatzkräfte im Innenangriff etwas mit. Aufgabe der Trupps wäre es allerdings gewesen, ihre Gruppenführer per Funk über den jeweiligen Aufenthaltsort und die Lageentwicklung auf dem Laufenden zu halten; denn die Führungskräfte tragen die Verantwortung für die ihnen unterstellten Einsatzkräfte. Im Dachgeschoss passiert den Ehrenamtlichen ein weiterer Fehler. Sie entscheiden sich offenbar wider besseres Wissen dazu, ihre personelle Aufteilung neu zu organisieren. Aus drei Zweiertrupps formieren sie spontan zwei Dreiertrupps. Sie begründen ihr Vorgehen später damit, dass einer von ihnen erst vor kurzem seinen Atemschutzlehrgang absolviert habe und deshalb nicht in den unmittelbaren Gefahrbereich vorgehen sollte. Dass sich alle sechs Einsatzkräfte bereits in akuter Lebensgefahr befinden, ahnt offenbar zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Ohne Rückzugssicherung bei Nullsicht im Innenangriff

Einer der neu zusammengesetzten Drei-Personentrupps besteht aus Stefan D., einem weiteren Feuerwehrangehörigen und dem Strahlrohrführer. Die Einsatzkräfte kriechen vom Treppenhaus her kommend durch eine Feuerschutztür in den Flur der Dachgeschosswohnung. Anders als üblich geht der Strahlrohrführer nicht vorweg, sondern hinterher und bleibt vor Raum 2 in Stellung, weil offenbar der Schlauch nicht länger ist. Die beiden vorangehenden Einsatzkräfte denken nicht daran ihre Sicherheitsleine als Verlängerung am Schlauch zu befestigen. Stattdessen bewegen sie sich ohne Kontakt zur Schlauchleitung und damit ohne Rückzugssicherung weiter voran. Im dichten Rauch finden sie die Öffnung zu Raum 4 mit dem Fenster nicht und verlieren vollends die Orientierung. Sie öffnen Raum 2 mittels Brechwerkzeug und glauben sich in Raum 4 zu befinden, an dem sie anfangs vorbeigingen. Plötzlich schießen die Flammen durch die Tür des Brandraums (Raum 5), der über der Brandwohnung im 1. Obergeschoss liegt. Der Strahlrohrführer kann zwar noch Wasser in Richtung Feuer abgeben, muss den Bereich dann aber nach der heftigen Durchzündung fluchtartig verlassen. Die Schlauchleitung ist zu kurz und im Treppenhaus auch nicht mit Schlauchhaltern gesichert. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf: Der Schlauch rutscht aus dem Flur des Dachgeschosses in das Treppenhaus zurück, die Feuerschutztür fällt daraufhin selbsttätig zu, da mit dem Schlauch auch der Türstopper fehlt. Zwei Feuerwehrleute sitzen jetzt in der Falle. Einer von ihnen erreicht bei Nullsicht per Zufall die rettende Tür zum Treppenhaus. Der Andere, Stefan D., kämpft um sein Leben.

Problematische Atemschutz-Notfallrettung

Beim Rückzug kommt es zu Irritationen. Zunächst geht die Einsatzleitung davon aus, dass alle Kräfte unversehrt nach draußen gelangt sind. Der dritte Trupp ist allerdings nach wie vor nicht bei der Atemschutzüberwachung registriert und die Aktiven haben sich während ihres missglückten Innenangriffs neu formiert. Erst mit zeitlicher Verzögerung fällt deshalb auf, dass Stefan D. fehlt. Der hat mittlerweile mehrfach einen Mayday-Notruf abgesetzt. Durch den Einsatzstellenlärm und eine fehlende Kanaltrennung sei der Sprechfunkverkehr allerdings erheblich beeinträchtigt gewesen, heißt es im Untersuchungsbericht der HFUK. Als die Mayday-Rufe durchdringen wird der Atemschutz-Notfall ausgerufen. D. kann allerdings seinen genauen Standort nicht mitteilen. Er schildert lediglich, dass er eine Treppe hochgegangen sei und dann die Orientierung verloren habe. Der 31-Jährige wird deshalb im Treppenhaus, im 1. Obergeschoss oder im Dachgeschoss vermutet. Es werden mehrere Rettungstrupps gebildet. Die brauchen allerdings einige Anläufe, um im Gebäude weiter vordringen zu können. Die Schlauchleitung des zunächst vorgehenden Rettungstrupps verhakt sich und wird schließlich von Glassplittern aufgeschlitzt. Ein neuer Trupp muss den Rettungseinsatz aufgrund der starken Brandausbreitung und des starken Wassereinsatzes über den Monitor der Drehleiter unterbrechen. Als es endlich weitergehen kann wird die Schlauchleitung erneut durch Glasscherben beschädigt. Zwei Rettungstrupps können schließlich mit einer neuen Angriffsleitung bis ins Dachgeschoss vordringen. Sie finden Stefan D. unter der Dachschräge von Raum 4, dort wo die Männer ursprünglich das Dachfenster öffnen wollten. Sein Notsignalgeber ist aktiviert. Der Warnton ist durch die äußeren Umstände aber erst in unmittelbarer Nähe des Verunglückten zu hören. Aufgrund der räumlichen Enge haben selbst vier Feuerwehrleute Mühe, ihren Kameraden mit einem Bergetuch aus dem Haus zu tragen.
Stefan D. hat den Einsatz nicht überlebt. Ein Gutachter benennt mehrere Gründe als todesursächlich: Sauerstoffmangel, Dehydrierung (Flüssigkeitsmangel) und Hitzeschock. Der intensive Gebäudebrand und die besonderen Umstände während des Atemschutznotfalleinsatzes haben seine schnellere Rettung nicht zugelassen. Die HFUK stellt daher fest: „Selbst mit vollen Atemluftflaschen hätte der Luftvorrat von D. für den Zeitraum bis zu seinem Auffinden nicht zum Überleben ausgereicht!“

Aus Sicht der Gutachter bleibt festzuhalten:

Die Einsatzstelle wurde nur unzureichend erkundet. Das führte zu einer falschen Einschätzung der Lage bzw. des Brandverlaufs im Gebäude. Die Einsatzkräfte liefen dadurch mehrfach am Brandherd (Wohnung im 1. Obergeschoss und dem darüber liegenden Brandraum im Dachgeschoss) vorbei.
Damit der Trupp im Innenangriff sicher und optimal arbeiten kann, ist die Erkundung der Einsatzstelle extrem wichtig. Sie wird „vor Ort“ nach den Grundsätzen der Feuerwehrdienstvorschrift 100 (FwDV 100) in vier Schritten durchgeführt: Frontalansicht, Befragung anwesender Personen, Erkundung der Zugangsmöglichkeiten, Rundumansicht. Ein Trupp darf im Übrigen niemals eigenmächtig die Entscheidung treffen, am Feuer vorbei zur Menschenrettung vorzugehen.

Das Schlauchmaterial wurde nicht in alle Räume mitgenommen, da es nicht in ausreichender Länge vorhanden war. Dadurch war die Rückzugssicherung nicht gewährleistet.
In der Feuerwehrdienstvorschrift 7 (FwDV 7) heißt es dazu: „Hat der vorgehende Trupp keine Schlauchleitung vorgenommen, so ist das Auffinden des Rückweges beziehungsweise des vorgegangenen Trupps auf andere Weise sicherzustellen (beispielsweise durch eine Feuerwehrleine oder durch ein Leinensicherungssystem). Eine Funkverbindung oder die Verwendung einer Wärmebildkamera ist kein geeignetes Mittel zur Sicherung des Rückweges.“

Der Trupp mit dem Verunglückten meldete sich nicht bei der Atemschutzüberwachung an.
Nach der FwDV 7 gilt: „Bei jedem Atemschutzeinsatz mit Isoliergeräten und bei jeder Übung mit Isoliergeräten muss grundsätzlich eine Atemschutzüberwachung durchgeführt werden.“

Die Trupps durchmischten sich während des laufenden Innenangriffs.
Nach der FwDV 7 gilt: Der Trupp bildet im Einsatz eine Einheit, das heißt er geht geschlossen vor und tritt auch gemeinsam den Rückweg an. Um beispielsweise den Schlauch sicher nachzuführen lässt sich allerdings eine Teilung nicht immer vermeiden. Experten halten eine kurzzeitige Trennung über nicht mehr als 1. Geschoss und nicht mehr als eine C-Länge für vertretbar. Die Distanz könne am Schlauch entlang schnell überbrückt werden. Drei-Mann-Trupps haben sich insbesondere zur Menschenrettung und bei besonders schwierigen oder gefährlichen Lagen bewährt. Sie müssen allerdings angeordnet sein.

Die Trupps stimmten ihr weiteres Vorgehen im Gebäude nicht mit der Einsatzleitung ab. Dadurch konnte der Verunglückte schlecht lokalisiert werden.
Die FwDV 7 regelt dazu: „Nach Anschluss des Atemanschlusses an das Luftversorgungssystem, bei Erreichen des Einsatzzieles und bei Antritt des Rückweges muss sich der Atemschutztrupp über Funk bei der Atemschutzüberwachung melden. Weitere Meldungen sollen lagebedingt abgegeben werden. Die Erreichbarkeit der vorgehenden Trupps ist wegen der begrenzten Reichweite von Sprechfunkgeräten zu überprüfen und sicherzustellen. Bricht die Funkverbindung ab, muss der Sicherheitstrupp soweit vorgehen, bis wieder eine Sprechfunkverbindung besteht oder er den Atemschutztrupp erreicht hat. Es ist sofort ein neuer Sicherheitstrupp bereitzustellen.“ (HFUK Nord: Der Sicherheitsbrief Nr. 40, Redaktion: kfv-herford.de)

-Vo-


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Am 2. Advent 2015 kommt es in Marne, einer Kleinstadt in Schleswig Holstein, zu einer Brandkatastrophe,
bei der ein Feuerwehrmann sein Leben verliert. (Foto: Feuerwehr Marne)

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Die Löscharbeiten laufen zunächst routinemäßig an. Feuerwehrleute haben sich mit Atemschutzgeräten ausgerüstet und warten auf ihren Einsatzbefehl.
(Foto: Feuerwehr Marne)

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Plötzlich kommt es zu einer dynamischen Brandausbreitung im Bereich des Dachgeschosses. (Foto: Feuerwehr Marne)

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Rauch und Hitze breiten sich schlagartig aus. (Foto: Feuerwehr Marne)

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Die massive Durchzündung im Dachgeschoss wird mit dem Wenderohr der Drehleiter bekämpft. (Foto: Feuerwehr Marne)

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Stefan D. wird vermisst. Mehrere Rettungstrupps rüsten sich aus, um nach ihm zu suchen. (Foto: Feuerwehr Marne)

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Der Rettungsdienst steht bereit, um den Verunglückten aufzunehmen. (Foto: Feuerwehr Marne)

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Das Thema Unfallverhütungsvorschriften und der Atemschutzunfall in Marne sind bei der
Feuerwehr Hiddenhausen im Januar 2017 Thema gewesen. (Foto: Bernd Gante, Feuerwehr Hiddenhausen)